Deutlich drüber: Das Phänomen Übertraining
Jeder Triathlet, der sich derzeit auf ein persönliches Saisonhighlight vorbereitet, dürfte im Training merken, dass es näher rückt. Die Umfänge steigen, die Intensität in Abhängigkeit des Wettkampfs ebenfalls. Kurz gesagt: Die Gesamtbelastung ist hoch und womöglich nicht mehr so, dass man das Pensum ganz locker im Alltag einstreuen kann. Vielleicht fühlst du dich häufiger müde und erschöpft, als es zum Saisonbeginn der Fall war, und bis zu einem gewissen Grad ist dies auch gewollt und kaum vermeidbar.
Wenn dieser Zustand jedoch chronisch wird, du regelmäßig von Infekten aus der Bahn geworfen wirst und das Gefühl hast, dass es im Training gar nicht mehr vorangeht, ist Schluss mit lustig und es besteht dringender Handlungsbedarf. Bei ambitioniertem Training und hochgesteckten Zielen ist der Übergang fließend, wann es zu viel wird und sich ein Übertrainingssyndrom entwickelt, bei dem im wahrsten Wortsinne „der Ofen aus ist“. Dieses zu diagnostizieren, erfordert eine höchst differenzierte Betrachtung, denn meistens haben die Symptome andere Ursachen und es muss gar nicht so weit kommen, dass nichts mehr geht.
Übertraining – was ist das überhaupt?
Charakteristisch für ein Übertrainingssyndrom ist die Reduktion der sportlichen Leistungsfähigkeit trotz gleichbleibendem oder gar intensiviertem Training. Ein Zustand, der dann mehrere Wochen andauert und von dem sich der Sportler auch durch Ruhetage nicht wesentlich erholt. Übertraining entsteht letztlich durch eine Akkumulation von Stress, der durch Trainingsbelastungen, aber auch den Alltag ausgelöst wird. In der Wissenschaft unterscheidet man zwischen „Functional Overreaching“, „Non-Functional Overreaching“ und „Overtraining“. Die Begriffe beschreiben die verschiedenen Stadien einer Überlastung und berücksichtigen dabei auch, wie lange dieser Zustand anhält. Functional Overreaching ist demnach die normale Erschöpfung, die unmittelbar nach einem harten Training auftritt und letztlich zu einer positiven Anpassungsreaktion führt. Beim Non-Functional Overreaching dauert dieser Prozess bereits länger und ist nicht nur auf das absolvierte Training zurückzuführen. Als Overtraining bezeichnet man schließlich einen Ermüdungszustand, der über Wochen und Monate anhält.
Diagnose nach Ausschlussprinzip
Es gibt leider keinen Leitfaden, anhand dessen ein Übertrainingssyndrom klar festgestellt werden könnte. Stattdessen erfolgt die Diagnose durch ein Ausschlussprinzip. Die Symptome können vielfältig sein und sich individuell stark unterscheiden. Dauerhaft schwere Beine, eine sinkende Leistungsfähigkeit, ein allgemein schlechter Gesundheitszustand mit häufigen Infekten sowie Stimmungsschwankungen können auf ein Übertrainingssyndrom hindeuten. Insgesamt lassen sich Symptome auf psychologischer, physiologischer, immunologischer sowie hormoneller Ebene feststellen. Schaut man sich das Hormonsystem an, können bei einem Übertraining reduzierte Hormonlevel auf der Achse zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde festgestellt werden, beispielsweise beim sogenannten Stresshormon Cortisol sowie der Sexualhormone. Diese Achse reagiert auf Stress und kontrolliert diesen gleichzeitig, ist zudem für verschiedene Prozesse wie das Immunsystem oder die Verdauung verantwortlich.
Um anhand all der genannten Parameter jedoch zur Diagnose „Übertraining“ zu kommen, müssen zunächst andere Ursachen wie eine akute Infektion, Entzündungen, Nährstoffdefizite oder Allergien ausgeschlossen werden. Ein Übertrainingssyndrom ist sozusagen das Ende der Fahnenstange und besteht selbst dann, wenn der Sportler ansonsten kerngesund ist. Zum Validieren wird daher zusätzlich mit psychologischen Tests gearbeitet. Und selbst dann ist eine gesicherte Aussage noch schwierig, denn das Problem ist häufig ein anderes, was viele Therapeuten, Ärzte oder auch Athleten jedoch nur selten auf dem Schirm haben.
Hinweise auf ein Übertraining
Die Diagnose eines Übertrainingssyndroms ist sehr schwierig und erfolgt unter Beachtung zahlreicher Faktoren nach dem Ausschlussprinzip. Folgende Symptome können auf eine chronische Überlastung hindeuten:
> reduzierte Leistungsfähigkeit
(Ausdauerleistung, schlechtere Trainingsanpassung, Reaktionszeit)
> abgeschwächte oder verminderte Hormonlevel (insbesondere die Sexualhormone Testosteron und Progesteron sowie Cortisol und Leptin)
> Veränderungen des Appetits
> allgemeine Müdigkeit
> Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit
Bei allen genannten Faktoren ist entscheidend, dass diese über mehrere Wochen andauern. Zur Diagnose müssen zunächst Krankheiten, Energie- oder Nährstoffdefizite sowie Verletzungen oder Entzündungsreaktionen ausgeschlossen werden.
Vermeidbares Übel
Die Rede ist vom relativen Energiedefizit-Syndrom, abgekürzt RED-S. Die Problematik bei RED-S klingt geradezu banal: Es wird weniger Energie zugeführt, als es das Trainingspensum erfordern würde, und es entsteht ein dauerhaftes kalorisches Defizit. Ob dies bewusst zur Gewichtsreduktion geschieht oder unbeabsichtigt, spielt keine Rolle. Die Wissenschaftler Stellingwerff und Kollegen haben sich 21 Studien angesehen und analysiert. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass sich die Symptomatiken eines Übertrainingssyndroms und RED-S signifikant überschneiden. Eine reduzierte Leistungsfähigkeit, chronische Müdigkeit, häufige Verletzungen oder reduzierte Hormonlevel – all diese bereits erwähnten Merkmale lassen sich auch feststellen, wenn Sportler sich über einen längeren Zeitraum nicht ausreichend versorgen. Das kann ernsthafte Folgen haben, beispielsweise eine verminderte Knochendichte oder bei Athletinnen das Ausbleiben der Menstruation.
Übertraining vermeiden und überwinden
Die Regeneration steht zur Vermeidung und Überwindung eines Übertrainingssyndroms an erster Stelle. Die Ernährung spielt dabei eine besonders wichtige Rolle, denn eine angemessene Energie- und Nährstoffzufuhr hilft dabei, den Trainingsstress zu verarbeiten und die Erholung zu beschleunigen. Ebenso wichtig ist der Schlaf. Versuche, während harter Trainingsphasen die eine oder andere Stunde mehr einzuplanen. Das kann dich eher voranbringen als eine intensive Einheit nach einer zu kurzen Nacht. Bei einem Übertraining kommt es außerdem meist zu einer „mentalen Müdigkeit“, die sich auf den gesamten Alltag auswirken kann. Wer der Regeneration viel Zeit einräumt, kann dem vorbeugen und letztlich den Spaß am Training erhalten.
Das Problem daran ist laut den Wissenschaftlern, dass RED-S zu wenig Aufmerksamkeit in der Diagnostik und Therapie erhält, weshalb es häufig zur Fehldiagnose „Übertraining“ kommt. In einer Studie mit ausdauertrainierten Athleten hatten lediglich 15 Prozent der Probanden mit klassischen Symptomen wirklich ein Übertrainingssyndrom, RED-S kam deutlich häufiger vor. Der Auslöser sei nicht der Overload des Trainings, sondern die mangelhafte Regeneration. Was dramatisch klingt, ist eigentlich eine gute Nachricht, denn RED-S und die Begleiterscheinungen lassen sich vermeiden. Konkret wird Sportlern empfohlen, mindestens 30 Kilokalorien pro Kilogramm fettfreier Masse zuzuführen – die im Training verbrauchte Energie sollte hinzukommen. Eine adäquate Versorgung trägt maßgeblich dazu bei, dass du den gesetzten Trainingsreiz entsprechend verarbeiten kannst und dich zügig davon erholst. Sportwissenschaftler und Triathloncoach Björn Geesmann verdeutlicht, worauf es in der Trainingspraxis ankommt: „Die Regeneration ist alles entscheidend. Die Ernährung ist ein Teil davon, aber auch der Schlaf, psychologische und soziale Faktoren.“ Für Agegrouper sei besonders die Beachtung des Alltagsstresses wichtig, so Geesmann. Diesen können sie aufgrund von verschiedenen Verpflichtungen meist kaum reduzieren, doch das Bewusstsein dafür zu haben, ist bereits sehr viel wert. Nach einem langen und hektischen Arbeitstag noch die härteste Trainingseinheit der Woche unterbringen zu wollen, ist also keine gute Idee. Hier wird einer der größten Unterschiede zwischen Profiathleten und Agegroupern deutlich. Letztere müssen Abstriche beim Trainingsumfang machen, weil durch den Arbeitsalltag, die Familie und das soziale Umfeld viel abseits des Trainings passiert, sodass die Regeneration auf der Strecke bleiben würde. Wichtig ist laut Geesmann außerdem, sich selbst beziehungsweise das Körpergefühl im Trainingsprozess genau zu beobachten. „Man sollte sich dessen bewusst sein, dass RED-S oder Übertraining auftreten können und sich entsprechend verhalten. Dazu kann man beispielsweise die Kalorienaufnahme oder den Schlaf kontrollieren und überwachen“, so der Coach.
Raus aus dem Tief
Bislang sollte deutlich geworden sein, dass ein „echtes“ Übertrainingssyndrom nur selten vorkommt und meist andere Ursachen zugrunde liegen. „Um ins Übertraining zu geraten, muss man vorher bereits sehr viel falsch machen und körperliche Signale wie Krankheiten oder Verletzungen langfristig ignorieren“, sagt Geesmann. Wenn es dann doch zu spät ist und ein Übertrainingssyndrom vorliegt, ist die Therapie gleichzeitig einfach und ernüchternd. Ein Medikament gibt es nicht, der Weg aus dem Leistungstief führt nur über eine Trainingspause.
Die körperliche und vor allem die mentale Erholung stehen im Vordergrund, dieser Prozess kann sehr langwierig sein und mehrere Monate dauern. So weit muss es jedoch gar nicht kommen, wenn du ein paar wesentliche Dinge beherzigst. Nimm deine körperlichen und mentalen Ressourcen bewusst wahr und gehe sorgsam damit um. Hole dir die nötige Kraft für dein Training, damit diese angenehme Erschöpfung, die wir alle kennen, rasch wieder verschwindet und sich in eine Topform verwandelt.
Mehr zu diesem Thema hörst du auch in den zwei Podcast-Episoden von power & pace Triathlon-Training:
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