Die goldene Mitte: Critical Velocity

Eine der wichtigsten Fragen im Triathlontraining ist die nach der richtigen Intensität. Die entsprechende Antwort liefern in erster Linie das Ziel und die erhofften physiologischen Anpassungen der jeweiligen Trainingseinheit. Je nach Modell gibt es in allen drei Disziplinen ein breites Spektrum von Trainingsbereichen. Orientiert wird sich dabei meistens entweder an den individuellen Leistungsdaten, der Herzfrequenz oder einer Zielgeschwindigkeit. Während die meisten herkömmlichen Trainingsbereiche und -begriffe wie Grundlagentraining, Schwellentraining oder VO₂max-Training bereits seit vielen Jahren bestehen, gibt es beim Laufen eine relativ neue Trainingsmethode, die erst seit kurzer Zeit eine hohe Aufmerksamkeit auf sich zieht und aus bestimmten Gründen auch für Triathleten interessant sein könnte: das CV-Training.

Eine Frage der Definition

„CV“ steht für Critical Velocity, ins Deutsche sinngemäß zu übersetzen mit „entscheidende Geschwindigkeit“. Ein Begriff, der ursprünglich aus der Sportwissenschaft der 1960er-Jahre stammt. Damals galt Critical Velocity als eine Intensität, die theoretisch unbegrenzt ohne Ermüdung durchgeführt werden kann. Im Laufe der Jahre und der wissenschaftlichen Fortschritte änderte sich die Definition des Begriffs und die damit beschriebene Intensität mehrfach. Für einen längeren Zeitraum wurde CV automatisch mit dem 10-Kilometer-Tempo gleichgesetzt. Das hatte mehrere Gründe: Zunächst stellte man fest, dass die Leistungsfähigkeit über zehn Kilometer einen starken Einfluss auf die möglichen Ergebnisse bei allen Distanzen von 800 Metern bis hin zum Marathon hat. Darüber hinaus fand man heraus, dass das Training bei einer etwas höheren Intensität als dem 10-Kilometer-Tempo dafür sorgt, dass man bei entsprechender Dauer seine maximale Sauerstoffaufnahme (VO₂max) erreicht. Mittlerweile soll Critical Velocity die Geschwindigkeit und Intensität sein, bei der sowohl ein hoher Prozentsatz der maximalen Sauer­stoffaufnahme erreicht wird als auch ein Laktatgleichgewicht (Laktat-Steady-State) für die Dauer des Laufs und der jeweiligen Intervalle im Training hergestellt werden kann. Der Gedanke dahinter ist, dass der Trainingsreiz bei dieser Intensität gleichzeitig Verbesserungen im Bereich der VO₂max und an der anaeroben Schwelle bringt.

Geprägt wurden der moderne Begriff und die Trainingsphilosophie rund um das heutige und neue Konzept von Critical Velocity vom amerikanischen Sportwissenschaftler, Physiologen und Laufcoach Tom Schwartz aus Boulder. Schwartz definiert Critical Velocity als eine Intensität und Laufgeschwindigkeit, die bei 90 Prozent der maximalen Sauerstoffaufnahme liegt. Aus einem ganz bestimmten Grund: Seinem Verständnis nach muss der angestrebte Bereich zwischen dem 10-Kilometer-Tempo und der anaeroben Schwelle des Läufers liegen. Diese beiden Intensitäten werden in der Sportwissenschaft meistens bei 92 Prozent und bei 88 Prozent der VO₂max festgelegt, wobei individuelle Abweichungen natürlich möglich sind. Dementsprechend legt Schwartz CV bei 90 Prozent, genauer genommen bei 89 bis 91 Prozent der VO₂max des jeweiligen Sportlers fest. Aber was genau verspricht sich Schwartz davon und warum kann man die Intervalle nicht einfach im 10-Kilometer-Tempo oder im Laktatschwellentempo absolvieren?

Aerobe Verbesserung der Typ-IIA-Muskelfasern als Hauptziel

Physiologisch hat die erwünschte Anpassung durch CV-Training in erster Linie etwas mit den Muskelfasern zu tun: „Die CV-Einheiten sollen Muskelfasern des Typs IIA rekrutieren und ihre aerobe Kapazität verbessern. Das sind die schnell zuckenden Muskelfasern, die durch spezifisches Training sehr veränderbar sind und infolgedessen Sauerstoff effektiver nutzen und verbrauchen können. Diese Fähigkeit ist im Laufen essenziell für alle Distanzen von 1.500 Metern bis hin zum Marathon“, erklärt Schwartz, der Chefcoach des amerikanischen Profi-Laufteams „Tinman Elite“ aus Colorado. Obwohl man bei den Intervallen der CV-Einheiten also einen Tick langsamer als 10-Kilometer-Tempo läuft, profitiere man laut Schwartz durch diese physiologische Anpassung trotzdem auch auf den Unterdistanzen davon. Bei den CV-Einheiten soll die gefühlte Anstrengung und das subjektive Belastungsempfinden vom Athleten als „einigermaßen hart“ beschrieben werden: etwas weniger anstrengend als VO₂max-Intervalle, aber intensiver als Schwellentraining oder ein Tempodauerlauf. CV-Training ist demnach keine Abkürzung, weh tut es trotzdem. 

Critical Velocity bildet also den Zwischenbereich zwischen 10-Kilometer-Tempo und der anaeroben Schwelle ab. Schwartz nennt zwei Hauptgründe, warum seiner Auffassung nach ausgerechnet bei dieser Intensität und nicht exakt im 10-Kilometer- oder Schwellentempo trainiert werden sollte: Es könne auf diese Art und Weise ein höherer Umfang der Intensitätsdauer in den Einheiten generiert werden als beim Training im 10-Kilometer-Tempo. Zwar wäre es insbesondere für leistungsfähige Athleten auch möglich, bei Intervalleinheiten einen Gesamtumfang von acht bis zehn Kilometern im 10-Kilometer-Tempo in Form von 1- bis 2-Kilometer-­Intervallen zu absolvieren, jedoch sei dabei die Verletzungsgefahr auf Dauer deutlich höher und die körperliche sowie mentale Regeneration ­dauere um einiges länger. Ein Aspekt, der auch für Triathleten relevant ist, da das Training noch umfangreicher als bei Läufern ist und die Qualität des Trainings der anderen beiden Disziplinen nicht zu sehr durch hohe Ermüdung oder zu lange Pausen beeinträchtigt werden sollte. Und da das Laufen nicht nur die höchste orthopädische Belastung verursacht, sondern ebenfalls die Disziplin mit der größten Verletzungsgefahr ist, sollte mit hochintensivem Training grundsätzlich vorsichtiger umgegangen werden als beim Schwimmen oder Radfahren. Sprich: höherer Umfang, ein ­effektiver Trainingsreiz und zeitgleich weniger Ermüdung und Verletzungsgefahr. Auf der anderen Seite steht das Schwellentraining, bei dem im Vergleich zum CV-Training ein noch höherer Intervallumfang realisiert werden könnte, da die Intensität etwas geringer als bei Critical Velocity ist. Dabei gibt Schwartz allerdings zu bedenken: „Wir wissen aus der Sportwissenschaft, dass man 90 bis 100 Prozent seiner maximalen Sauerstoffaufnahme erreichen muss, damit es dahingehend überhaupt einen Trainingsreiz gibt. Beim Schwellentraining, wo es in erster Linie um die Ökonomisierung geht, ist der Reiz sehr eindimensional. Es gibt keinen Einfluss auf die ­VO₂max, das ist beim CV-Training anders. Deshalb ist die Intensität extra so gewählt, dass beide Systeme angesprochen werden und zugleich immer noch relativ hohe Umfänge realisiert werden können.“ Der  USATF-Level-1-Coach fügt hinzu: „Trotzdem haben reines VO₂max-Training und auch Schwellentraining eine absolute Berechtigung und sollten nicht komplett ignoriert werden. Bei der Strukturierung kommt es in erster Linie auf die Physiologie des Sportlers, den Zeitpunkt in der Saison und die Art der bevorstehenden Wettkämpfe an.“

Laut Schwartz gibt es drei wesentliche Trainings­effekte, die durch CV-Training angestrebt werden: erstens eine bessere Ausnutzung der VO₂max. Ein Athlet soll als Folge der Anpassungen an das CV-Training bei gleicher oder höherer Intensität einen geringeren Prozentsatz seiner VO₂max aufwenden müssen als zuvor. Zweitens soll der Sportler im Umkehrschluss in der Lage sein, eine bestimmte Geschwindigkeit beziehungsweise Intensität für einen längeren Zeitraum aufrechterhalten zu können. Als dritten Punkt nennt Schwartz die Verbesserung an der anaeroben Schwelle, die sich mit der Zeit weiter nach oben verschiebt und es dem Athleten damit ebenfalls ermöglicht, im Training trotz gleicher Intensität bei höheren Geschwindigkeiten zu trainieren, da sich auch die Trainingsbereiche nach oben verschieben.

Praktische Umsetzung von CV-Einheiten

Bevor CV-Einheiten absolviert werden, muss man den Bereich seiner Critical Velocity zunächst bestimmen. Ein entscheidender Punkt, damit man – wie beschrieben – nicht oberhalb oder unterhalb der gewünschten Intensität trainiert und damit die genannten Trainingsziele verfehlt. Dafür gibt es zwei Wege: Entweder absolviert man eine Leistungsdiagnostik und orientiert sich an 90 beziehungsweise 89 bis 91 Prozent seiner VO₂max oder man gibt seine aktuelle Leistungsfähigkeit auf einer oder mehreren Distanzen von drei Kilometern bis hin zum Marathon in den Kalkulator von Tom Schwartz auf seiner Website runfastcoach.com ein. Alternativ ist auch ein All-out-Test auf der Bahn mit einer Dauer von sieben bis acht Minuten möglich. Die ­erreichte Durchschnittsgeschwindigkeit ist dabei mit 100 Prozent der VO₂max gleichzusetzen, woran sich die weiteren Werte ableiten lassen. Als Empfehlung spricht Schwartz aus, CV-Einheiten einmal pro Woche ins Training zu integrieren. Je nach Leistungsfähigkeit des Sportlers haben die Einheiten ­einen Gesamtumfang an CV-Intensität von fünf bis acht, für ­Topathleten maximal zehn Kilometern, häufig aufgeteilt in 1.000- bis 2.000-Meter-Intervalle.­­­ Nach dem CV-Programm lässt Schwartz meistens noch vier bis sechs 200-Meter-Intervalle für die Motorik und neuromuskuläre Ansteuerung absolvieren.

„Critical Velocity ist in diesem Sinne keine neue Methode, die es nicht vorher schon gegeben hat. Aber die Definition und das physiologische Verständnis dahinter haben sich mit der Zeit immer weiter entwickelt“, ordnet Tom „Tinman“ Schwartz abschließend ein. „Gerade für verletzungsanfällige Läufer und Athleten, die hohe Umfänge auf dem Plan haben, kann CV-Training ein wichtiger Schlüssel zur konstanten Weiterentwicklung sein. Es ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass schneller nicht immer besser oder effektiver ist.“

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