Dunkle Schatten auf strahlenden Helden
Er war der strahlende Held. Immer ein lockerer Spruch auf den Lippen, als Vertriebsleiter einer Firma für Medizintechnik beruflich erfolgreich, privat seit 2010 im Glück als Familienvater. Sportlich machte Robert Brummer auch kaum jemand etwas vor. Innerhalb eines Jahres von null auf hundert. Der erste Triathlon war gleich eine Langdistanz. 2006 in Roth kam er nach 10:09 Stunden ins Ziel. Beim Ironman Klagenfurt 2008 finishte er in 9:31 Stunden. Gern präsentierte Robert Brummer das neueste Equipment – und sich selbst. Man kann sagen: Freunde und Bekannte schauten zu Robert Brummer auf. Aber auch: Manchmal schoss er über das Ziel hinaus. Nach außen bewahrte er den schönen Schein. Im Inneren aber waren schon längst dunkle Wolken aufgezogen, die Schatten auf Brummers Seele legten. 2011 ging dann nichts mehr. Vier Tage lang kam er nicht aus dem Bett. Der Triathlon hatte Robert Brummer tief in die Depression getrieben.
Jasmin Schulz war begeisterte Läuferin, absolvierte Marathons. Der Spaß stand im Vordergrund, die Leistung war nebensächlich. Immer öfter aber machten sich unerklärlich dunkle Gedanken in ihrem Kopf breit. Sie war leichter reizbar, ihre körperliche und geistige Belastbarkeit sank. Der 33-Jährigen fehlte 2017 sämtlicher Elan. „Ich wollte es erst nicht wahrhaben. Man denkt, das ist einfach eine schlechte Phase und man muss nur mal den Allerwertesten hoch bekommen – aber das ging nicht mehr“, berichtet Schulz. Eines Abends im Jahr 2019 lagen die dunklen Schatten so schwer auf ihrer Seele, dass sie beschloss, dass es so nicht weitergehen konnte. „Ich brauchte ein neues Ziel, etwas, auf das ich mich fokussieren konnte und das meinem Alltag wieder mehr Struktur verleiht, damit ich die Kontrolle zurückerlange.“ Ihr Ziel: der Ironman Frankfurt 2020. Der Elan kehrte zurück. Der Triathlon holte sie aus der Depression.
Komplexes Krankheitsbild
Mit ihren Schicksalen sind die beiden nicht allein. „Sechs bis sieben Prozent aller Erwachsenen erfüllen innerhalb von zwölf Monaten die Kriterien für eine Depression“, sagt Diplompsychologin Anna Heese von der Deutschen Sporthochschule in Köln.
„Im Verlauf eines Lebens geht man sogar davon aus, dass zwischen elf und 20 Prozent der Menschen eine depressive Episode durchlaufen.“ Psychologe und Mentaltrainer Stefan Westbrock aus Hamburg erklärt zwar: „Sportler sind weniger anfällig für Depressionen. Sport sorgt für Glückshormone.“ Gefeit dagegen sind sie aber natürlich nicht. Selbst Triathleten nicht. Schulz und Brummer sind Beispiele, wie sich dieser Sport auf die Psyche auswirken kann: positiv und negativ.
Das Krankheitsbild „Depression“ ist komplex. Es kann schleichend auftreten oder plötzlich. Akut oder chronisch. Mit einem leichten oder schweren Verlauf. „Die Ursachen hat man bis heute nur teilweise verstanden“, verdeutlicht Heese. „Meist bestehen bestimmte Prädispositionen oder eine gewisse Verletzbarkeit. Das können genetische Veranlagungen sein, aber auch erworbene Anfälligkeiten. Dabei geht es darum, was jemand in seinem Leben erlebt hat, was einem beigebracht wurde. Diese Faktoren können anfälliger für eine Depression machen. Sie können jedoch auch schützen.“ Auch hormonelle Einflüsse wirken sich auf die Entstehung einer Depression aus. Neurophysiologische Veränderungen spielen ebenfalls eine Rolle: Die Neurotransmitterausschüttung im Gehirn verändert sich, Botenstoffe wie Noradrenalin (Stresshormon) und Serotonin (Glückshormon) scheinen ins Ungleichgewicht zu rutschen. Studien deuten an, dass es bei Depressionen teilweise zu Entzündungsreaktionen im Gehirn kommen kann und die Entzündungswerte mit der Dauer der Krankheit zunehmen.
Klare Depressionskriterien
Nicht jede schlechte Stimmung oder Phase der Niedergeschlagenheit ist aber mit einer Depression gleichzusetzen. Die Anzeichen sind häufig schwer auszumachen. Daher ist das Krankheitsbild auch wenig greifbar. Körperliche Verletzungen sind leicht festzustellen, eine Verletzung der Psyche nicht.
„Es mag wissenschaftlich nicht ganz korrekt sein, aber es ist eine passende Idee, sich eine Depression als Verletzung der Psyche vorzustellen“, sagt Stefan Westbrock. „Wenn man ständig den falschen Zielen hinterherjagt, ist es, als würde man sich permanent an einer Stelle seines Körpers kratzen. Irgendwann entsteht eine Verletzung.“
Es gibt medizinisch genau festgelegte Kriterien, die über einen Zeitraum von zwei Wochen erfüllt sein müssen, bevor von einer Depression gesprochen wird.
„Um daran zu erkranken, bedarf es nicht immer eines Auslösers in Form eines traumatischen Erlebnisses oder körperlicher Überlastung. Depressionen können auch ohne Grund auftreten – oder durch positive Erlebnisse, wie etwa die Geburt eines Kindes“, sagt Anna Heese. Selbst nach sportlichem Erfolg, etwa dem Finish bei einem Triathlon, gebe es teilweise depressive Episoden. Die Freude über die Leistung rückt bei der Post- Race-Depression in den Hintergrund angesichts der Ungewissheit, was folgen soll. Der Alltag wird durcheinandergewirbelt. Manche Menschen bekommen Probleme, sich darauf einzustellen. Stefan Westbrock verdeutlicht: „Pragmatisch ausgedrückt, ist eine Depression ein Zustand, in dem sich der Fokus eines Menschen verschoben hat. Er ist nicht mehr zielgeführt.“
In dieser Hinsicht kann Sport, wie bei Jasmin Schulz, einen positiven Einfluss nehmen. „Ich habe schon im ersten Gespräch gemerkt, dass sie im Triathlon Halt sucht“, sagt ihre Trainerin Tanja Suchan, Triathlon- und Gesundheitscoach. „Jasmin ist ein Mensch, der Strukturen braucht und die Kontrolle behalten will. Sie ist empathisch und zurückhaltend, aber auch strebend nach Erfolg. Sie brauchte einen Anker und hat sich ein hohes Ziel gesetzt.“ Die Tage verliefen durch das Training strukturierter, die Sinnfrage stellte sich Schulz vorerst nicht. Der 33-Jährigen war klar, sie macht das alles, um auf dem Römerberg einzulaufen. „Wichtig ist, dass ein Ziel aus einem eigenen inneren Antrieb gewählt wird“, betont Westbrock. „Ziele sind bedeutend, aber sie können auch hinderlich sein, wenn sie nicht erreicht werden oder fremdbestimmt sind. Darauf kann der Organismus mit Verletzungen reagieren. Körperlich oder seelisch.“
Wie bei Robert Bummer. Die anfänglich begeisternde Faszination für Triathlon wandelte sich schnell zu einer krankhaften Sucht. „Ich habe mir eingeredet, ich würde noch Spaß empfinden, dem war aber nicht so. Ich bin Zielen hinterhergejagt, die längst anderen gehörten. Ich wollte allen gefallen und war getrieben davon, immer besser zu werden. Ich habe mich nur noch über Triathlon definiert.“ Schon 2007 gab es für den Bayern nur noch ein Thema.
„Ich habe mich von allen abgekapselt, wollte niemanden mehr sehen. Mein ganzes Leben drehte sich nur noch um Triathlon. Anfangs habe ich zehn Stunden pro Woche trainiert, dann waren es 20“, sagt Brummer. „Ich war total fanatisch, wollte wie meine Idole mit acht Prozent Körperfett aussehen.“ Brummer entwickelte eine Essstörung, wog 68 Kilogramm bei 1,75 Metern Körpergröße. Bennie Lindberg, Brummers Coach von 2006 bis 2009, erinnert sich: „Ich habe zwar gemerkt, dass seine Leistungen großen Schwankungen unterlagen, aber als Trainer ist man auch abhängig von den Informationen, die man erhält. Wenn ein Athlet in ein Übertraining gelangt, eine Essstörung entwickelt oder eine depressive Episode durchmacht, ist es häufig so, dass er selbst das nicht wahrhaben will.“ Anna Heese zeichnet das Bild vom Triathleten, wie er sich gern sieht und von anderen wahrgenommen wird: „Sie gelten als hart im Nehmen und tough. Da ist es noch schwerer, sich selbst einzugestehen, dass man eventuell ein Problem hat. Das macht den Schritt, sich Hilfe zu holen, nicht unbedingt leichter.“
Zwar gebe es laut der Diplompsychologin in Bezug auf die Verteilung von Depressionen keinen signifikanten Unterschied zwischen Individual- und Mannschaftssportlern. Dennoch brächten einige Triathleten eine gewisse Prädisposition mit. „Man darf auf keinen Fall pauschalisieren“, mahnt die Diplompsychologin: „Aber bei Triathleten gibt es die Tendenz, einen hohen Anspruch an sich selbst zu haben, funktionieren zu müssen und die Herausforderung, ob sportlich oder privat, allein zu meistern.“ Triathleten erlegten sich im Vergleich zu anderen Sportlern auch im Amateurbereich nicht selten ein enormes Trainingspensum auf. „Das kann ein Risikofaktor sein, selbst wenn Erfolg da ist“, sagt Heese. „Der kann nämlich die eigenen Ambitionen steigen lassen. Kein Resultat scheint mehr gut genug. Der Leistungsdruck nimmt weiter zu.“ Das könne zu Übertraining führen, das in schwankenden Leistungen mündet, die zu noch mehr Training führen. Ein Teufelskreis. Irgendwann stürzt das System zusammen.
Kriterien einer Depression
Liegen über zwei Wochen oder länger mindestens zwei der drei Hauptsymptome und zusätzlich mindestens zwei Nebensymptome vor, wird die Diagnose Depression gestellt. Je nach Anzahl und Ausprägung der Symptome wird zwischen leichter, mittelgradiger und schwerer Depression unterschieden (fett = Hauptsysmptom, normal = Nebensymptom).
- Suizidgedanken/ Suizidhandlungen
- Verlust von Interesse und Freude
- Depressive Stimmung
- Verminderter Antrieb
- Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
- Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
- Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Schlafstörungen
- Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
- Appetitminderung
Ironman unter Antidepressiva
Robert Brummer hatte schon früh Anzeichen wie vermindertes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen und Verlust von Interesse und Freude bei sich selbst ausgemacht. Nicht über zwei Wochen, sondern über Monate, am Ende Jahre. Ein Ärztemarathon begann. Den Ironman Klagenfurt 2008 absolvierte er unter Einfluss von Antidepressiva. Die medikamentöse Behandlung war nur kurz erfolgreich. Gesprächstherapien spürten den Grund der Depression nicht auf. „Viele Ärzte haben einen eingeschränkten Blick, da fehlt teilweise die Ganzheitlichkeit, um der Sache auf die Spur zu kommen“, sagt er. Die depressiven Episoden wechselten sich mit glücklichen Momenten ab, als er 2009 seine heutige Frau Szusanna kennenlernte, als 2010 seine Tochter zur Welt kam. Seine Familie arrangierte sich mit Brummers vermeintlicher Leidenschaft. „Ich habe ihn so kennengelernt, dass es nur den Sport für ihn gab, und habe ihn immer unterstützt. Aber ich habe auch schnell gemerkt, dass es krankhaft ist“, sagt Szusanna Brummer. „Ich habe versucht, ihm seinen Freiraum zu lassen, wenn er sich zurückgezogen hat.“ Nach außen gab er weiter den strahlenden Helden. „Innerlich aber war da dieser Druck. Ich wollte mein fehlendes Selbstwertgefühl durch sportliche Leistungen kompensieren“, erklärt Brummer. Sein Körper bremste ihn schließlich aus. Der Ausweg aus der Depression ist steinig – und in den meisten Fällen nur aus eigenem Antrieb möglich als eigenes Ziel. Robert Brummer und Jasmin Schulz mussten für sich selbst zunächst akzeptieren, dass sie krank waren. Brummer gab den Sport für einige Jahre auf, machte eine Ausbildung zum Business- und Persönlichkeitscoach und steckt derzeit in der Ausbildung zum Mentaltrainer. Er will künftig anderen Menschen mit ähnlichen Problemen helfen. Ein Schlüssel zum Erfolg war in beiden Fällen der eigene Umgang mit der Krankheit. „Seit fünf Jahren spreche ich offen darüber. Ich habe festgestellt, dass sich andere dadurch auch öffnen. Depression kann jeden treffen. Ich bin überzeugt davon, dass es vielen Athleten so geht wie mir damals.“ Mittlerweile trainiert Robert Brummer wieder. In Maßen. „Wenn ich drohe, wieder in einen Rausch zu kommen, kann ich mich durch Strategien selbst bremsen.“
Auch Jasmin Schulz betont: „Ich bin sofort offen mit der Krankheit umgegangen. Menschen sind häufig überfordert, wie sie darauf reagieren sollen, aber es ist ein Teil von mir. Darüber zu reden, ist befreiend.“ Nach einer erneuten depressiven Episode in den vergangenen Wochen steckt sie wieder mitten im Training. Durch die coronabedingte Absage des Ironman Frankfurt 2020 hatte Jasmin Schulz kurzzeitig den Fokus verloren. Durch Hilfe von Tanja Suchan, die mittlerweile zu einer Freundin geworden ist, hat sie diesen wiedergefunden. Es wurde dann die neue Zielsetzung: der Wettkampf 2021. Als strahlende Heldin auf dem Römerberg über die Ziellinie laufen war nun das Wichtigste für Jasmin.
Hilfe für Betroffene
Die Anzeichen für eine Depression sind häufig schwer auszumachen. Es gibt aber medizinisch genau festgelegte Kriterien, die erfüllt sein müssen, um von einer Depression zu sprechen. Wer glaubt, erkrankt zu sein, hat verschiedene Möglichkeiten, sich helfen zu lassen.
Ein erster Schritt könnte ein Selbsttest sein. „Die sind meist sehr ähnlich aufgebaut“, erklärt Diplompsychologin Anna Heese von der Deutschen Sporthochschule in Köln. Im Internet gibt es seriöse Selbsttests, etwa von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe unter deutsche-depressionshilfe.de.
Wer sich genauer über das Thema informieren möchte, findet auf der Website zusätzlich auch zahlreiche Informationen und Anlaufstellen. „Grundsätzlich kann aber auch der Hausarzt ein erster Ansprechpartner sein“, sagt Anna Heese.
Bei akuten Krisen oder Notfällen gibt es die Möglichkeit, sich an die Telefonseelsorge unter den Nummern 0800 / 1 11 01 11, 0800 / 1 11 02 22 oder 116 123 zu wenden oder beim ärztlichen Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116 117 anzurufen. Betroffene können sich in akuten Krisen auch jederzeit an das zuständige psychiatrische Krankenhaus wenden.
Für Leistungssportler mit psychischen Problemen bietet die Initiative Mental Gestärkt unter anderem eine Vermittlung von Ansprechpartnern (mentalgestaerkt.apps-1and1.net). Informationen zur Suche von Psychotherapeuten und Hilfe dabei findet man zum Beispiel im Internet unter psychotherapiesuche.de.
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