Magische Marken

“Alle!“, sagt Coach Björn Geesmann wie aus der Pistole geschossen und muss lachen. Es ist die Antwort auf die Frage, wie viele der Triathleten, die von ihm trainiert werden wollen, eine bestimmte Zeit als Ziel im Kopf haben, wenn sie sich vorstellen. Eine Antwort, die zeigt, dass magische Marken im Triathlon eine bedeutende Rolle spielen. Zum einen sind da natürlich die ganz großen, wie zum Beispiel die Sub8 auf der Langdistanz und als Krönung natürlich auf Hawaii. So wie es Patrick Lange gelungen ist, der diese Marke bei der Ironman-WM 2018 als erster Athlet unterboten hat. Ziele wie der Radsplit unter vier Stunden für volle 180 Kilometer warten noch darauf, im Rennen zum ersten Mal geknackt zu werden. Und Gleiches gilt auch für das jüngst mit großem Aufschlag ausgegebene Ziel von ­Alistair Brownlee, Kristian Blummenfelt, Lucy Charles-­Barclay und Nicola Spirig, auf einer unter Laborbedingungen ausgetragenen Langdistanz unter sieben beziehungsweise unter acht Stunden bleiben zu wollen.

Doch diese Marken sind selbstverständlich, wenn überhaupt, nur für eine sehr überschaubare Anzahl von Athleten zu erreichen. Anders sieht es mit den Zeitzielen aus, mit denen die Athleten bei Björn Geesmann aufschlagen. Dort geht es um zwölf, elf, zehn oder neun Stunden, die unterboten werden sollen, und wie realistisch die jeweiligen Zielsetzungen sind, schwankt stark. Doch woher kommt überhaupt der Wunsch, bestimmte Zeiten zu erzielen und magische Marken zu knacken, den es in so vielen Sportarten gibt?

Dass es neben der Freude an der schlichten Bewegung für so viele beim Sport um einen wie auch immer gestalteten Vergleich geht, liegt am Lohn der Mühen. Dieser besteht zum einen in der Ausschüttung von Glückshormonen, wenn ein Ziel erreicht ist, und zum anderen in der öffentlichen Aufmerksamkeit, die man erlangt, wenn man in einem Vergleich gut abgeschnitten hat – und wenn der Gegner nur die Zeit war. Der Effekt ist dabei naturgemäß am größten, wenn wir eine Marke sofort als etwas Besonderes begreifen können, und da Menschen Zahlen nicht absolut wahrnehmen, sondern relativ zu Bezugspunkten, helfen glatte Werte hier enorm.

Der Smarte Weg zum Ziel

Zeiten sind deshalb naheliegende Ziele, da mit dem Ausgang eines Rennens nur ein Bruchteil der jeweiligen Starter etwas zu tun hat. Ein ergebnis­orientiertes Ziel wie der Sieg bei einem Wettkampf liegt so weit außerhalb der Reichweite der meisten Athleten, dass etwas anderes her muss, auf das man hinarbeiten kann. Und hier kommen die magischen Marken ins Spiel. Ein beliebter Gradmesser, ob ein Ziel Motivation auslösen kann, ist die SMART-Regel. Nach dieser sollte ein Ziel spezifisch, messbar, aktionsorientiert, realistisch und terminierbar sein. Und eine angestrebte Zielzeit kann alle diese Punkte erfüllen: Man kann sie eindeutig benennen (spezifisch), sie lässt sich überprüfen (messbar), sie bietet einen Ansatzpunkt für eine positive Veränderung (aktionsorientiert), sie kann grundsätzlich erreicht werden (realistisch) und es besteht die Möglichkeit, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt anzugreifen (terminierbar). Insofern haben magische Marken das Potenzial, eine positive Wirkung zu erzielen, da sie die Konzentration auf die Handlung erhöhen können. Mit einem Zeitziel im Kopf strengt man sich im Optimal­fall mehr an, hält länger durch, ist motivierter und es fällt einem leichter, überhaupt eine Strategie zu entwickeln, um besser zu werden. Gelingt dies, kann ein positiver Kreislauf in Gang gesetzt werden, der nach folgendem Prinzip funktioniert: Das gesetzte Ziel sorgt für Motivation, diese führt zu vermehrter Anstrengung, was wiederum zu besseren Trainings­ergebnissen führt. Diese sorgen dafür, dass sich ein gutes Gefühl einstellt, das wiederum für die nächsten Trainingsschritte motiviert und eine neue ­Runde im Kreislauf einläutet. Kommt dir bekannt vor? Wunderbar! Du bist offenbar der Typ, den man mit Zeitzielen „kriegen“ kann. Wie du deine Ziele am besten verfolgen, dazu kommen wir später. Zunächst soll es jedoch um die Fallstricke gehen, von denen auf dem Weg zu magischen Marken jede Menge lauern.

In dieser Hinsicht zeigt sich auch die Widersprüchlichkeit des Triathlons. Er ist einerseits wunderbar geeignet, um sich Zeiten als Ziele zu setzen, weil die Bandbreite der Verwirklichungs­möglichkeiten riesig ist. Und gleichzeitig ist er extrem ungeeignet, da etliche äußere Einflüsse einen eigentlich guten Plan hinfällig machen können. Und hier wird es knifflig für den Kopf. „Es gibt Athleten, die das Hinarbeiten auf eine bestimmte Zeit hemmen kann. Auch im Rennen“, sagt Coach ­Geesmann. Und wenn dann noch unplanbare Dinge hinzukämen, wie schlechtes Wetter, Wind auf der Radstrecke oder zeitraubende Pannen, sei eine zu starke Fixierung auf eine Marke ein großes Problem, so der Trainer. Auch deshalb ziehe er Sportlern, die vor ihrer ersten Langdistanz stehen, praktisch immer den Zahn eines bestimmten Zeitziels. Im Kopf hätten ein solches Ziel alle, aber woher sollte jemand, der noch nie eine Langdistanz absolviert hat, wissen, ob er tatsächlich unter zwölf, elf, zehn oder neun Stunden bleiben kann? Erst recht, bevor die Diagnostik und das entsprechende Training stattgefunden haben? Hier sei der Realitätscheck als erster Schritt von entscheidender Bedeutung, so Geesmann, denn Triathlon sei schließlich kein Fußballspiel, in dem man in der letzten Minute mit einem Tor noch alles rumreißen, den Sieg einfahren und damit sein Ziel erreichen könne. Die physiologischen Voraussetzungen müssten zum gesetzten Ziel passen, betont er eindringlich, und das werde mit der Größe der Ambition immer entscheidender. Eine Zeit um die zwölf Stunden, davon ist der Coach überzeugt, könne jeder schaffen, der einen guten Trainingsplan umgesetzt habe. Dennoch solle man beim ersten Mal nicht den Fehler machen, sich eine elf vor dem Doppelpunkt vorzunehmen. Denn es wäre geradezu absurd, unzufrieden mit seinem ersten Langdistanzfinish zu sein, wenn zum Beispiel 12:10 Stunden auf der Uhr stünden, gibt Geesmann zu bedenken. Elf Minuten mehr oder weniger würden schließlich nichts daran ändern, dass es sich hier um eine herausragende Leistung handle.

Unzufriedenheit und steigenden Druck aufgrund ­einer zu großen Fixierung sieht auch Mentaltrainerin Ute Simon, die Erfahrung mit zahlreichen Sportlern hat und selbst Triathletin ist, als möglichen Fallstrick. Eine große Gefahr sei, dass man die Verbesserung, die man auf dem Weg im Training erzielt habe, gar nicht sehe, da das Endziel alles überstrahle, warnt Simon. Deshalb wirbt auch sie für realistische Ziele und betont die Wichtigkeit der intrinsischen Motivation. Nur wenn die körperlichen Voraussetzungen stimmten und das ausgegebene Ziel wirklich das eigene sei, habe man Aussicht auf Erfolg. Und auch für den Fall, dass es auf dem Weg zu einer Krise käme und der Druck zu groß werde, gebe es Lösungen. Dann gehe es darum, die Probleme im Detail zu analysieren und auf kleine Erfolge zu gucken, sagt die Trainerin. Auf keinen Fall solle man sein Ziel sofort aufgeben, denn vielfach sei den Betroffenen schon damit geholfen, dass sie sich bewusst machten, dass sie mit dem Erreichten schon etwas Großes geschafft hätten. Und selbst wenn das Ziel am Ende verfehlt würde, bedeute dies keine negativen Konsequenzen.

Im Gegenteil! Ute Simon gibt sogar zu bedenken, dass es einem nicht unbedingt besser gehe, wenn man seine gesetzte Zielzeit erreiche. Schließlich bestünde die Gefahr, dass man sich künftig immer daran messe und dies wiederum hemme und Druck aufbaue. Um dieses Szenario zu verhindern, wirbt Simon dafür, das Ziel nach dem Ziel von Anfang an mitzudenken – sich schon vor dem Trainingsauftakt klar zu machen, was nach dem Ziel folgen soll. Meistens genüge es schon, eine Antwort darauf zu haben, ­warum man eine bestimmte Zeit erreichen möchte, um nach dem Ziel nicht in ein Motivationsloch zu fallen.

Versicherung des Fortschritts

Doch wie versprochen sollen auch die positiven Effekte eines Zeitziels nicht zu kurz kommen. Du hast dir ein realistisches Ziel gesetzt, wissen, warum du es erreichen willst, und sind voller Motivation? Dann gehst du es mit einem cleveren Plan an. Dazu gehört, dass du dich im Training immer wieder deines Fortschritts versicherst. Natürlich sollst du vor dem angepeilten Rennen keinen kompletten Probelauf machen, aber wenn dein Trainingsplan sinnvoll aufgebaut ist, wird er immer wieder Einheiten beinhalten, die dir Sicherheit geben. Nach dem Motto: Wenn ich das im Training schaffe, gelingt es mir auch im Wettkampf, alles am Stück zusammenzubekommen. Denn wenn du der Typ für Zeitziele bist, dürfte dir die Wettkampfsituation zusätzlich Schub verleihen. Und ein weiterer Tipp vom Coach lautet: „Versteife dich nicht auf einen bestimmten Tag.“ Wenn du dir zugestehst, dass es auch mehrere Anläufe für das Erreichen deines Ziels geben kann, sinkt der Druck bei den jeweiligen Versuchen. Vielleicht reicht es dann beim ersten Mal noch nicht ganz für eine bestimmte Marke, aber du hast dennoch eine persönliche Bestzeit hingelegt. Dann liegt es an dir, diesen Erfolg zu feiern und dankbar dafür zu sein, dass du an diesem Tag mehr aus dir herausholen konntest als jemals zuvor.

Related Articles

Magische Marken

Den meisten Ausdauersportlern geistern ganz bestimmte Zeiten durch den Kopf, die sie als Ziele verfolgen. Doch worin liegt die Faszination für Marken, die es zu unterbieten gilt? Und wie geht man es richtig an? Gedanken über den Weg zum großen Ziel.

Gefangen im Datenstrudel

Von A wie anaerober Schwelle bis Z wie Zugfrequenz: Im Triathlon gibt es mittlerweile ein gutes Dutzend Metriken und dafür notwendige Tools, um Trainings- und Wettkampfergebnisse zu erfassen. Wir erklären dir, was davon wirklich sinnvoll ist und ab wann das Sammeln von Daten und der Vergleich mit anderen krankhaft wird.

Dunkle Schatten auf strahlenden Helden

Triathleten gelten als tough und zielorientiert. Immer neue Herausforderungen, immer bessere Leistungen. Die Rastlosigkeit kann
dazu führen, dass das System zusammenstürzt. Die mögliche Folge: eine Depression. Triathlon kann mit seinen strukturgebenden Anforderungen aber auch aus der komplexen Krankheit heraushelfen. Zwei Beispiele.

Responses

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert