Never change a running system: Wie sieht der ideale Fußaufsatz aus?
Die Frage ist mindestens so alt wie die Laufschuhindustrie: Wie sieht die optimale Lauftechnik aus? Das kommt ganz darauf an. Die Lauftechnik ist beinahe so individuell wie ein Fingerabdruck und immer auch abhängig von den anatomischen und motorischen Voraussetzungen, die ein Athlet mitbringt. Jeder Mensch läuft anders und Laufen ist ein komplexes Bewegungsmuster, das sich aus mehreren Elementen zusammensetzt. Stütz-, Abdruck- und Schwungphase sowie andere Technikmerkmale münden in einen Moment: den Fußaufsatz. Wie aber sollten Athleten beim Laufen den Fuß aufsetzen und lohnt sich ein Wechsel hin zu einem anderen Laufstil? Ein Überblick über Theorie und Wirklichkeit.
Millisekunden entscheiden
Das Laufen unterscheidet sich biomechanisch vom Gehen dadurch, dass es beim Gehen eine Doppelstützphase gibt, während der beide Füße gleichzeitig den Boden berühren. Das begünstigt den Fersenaufsatz. Beim Laufen dagegen fällt dieser Moment weg und wird zur Flugphase, also einem Moment, in dem beide Füße gleichzeitig keinen Bodenkontakt haben.
Als Fußaufsatz ist der Zeitpunkt definiert, an dem der Fuß nach der Schwungphase den ersten Kontakt mit dem Boden hat, der sogenannte initial contact. „Es geht um einen Zeitbereich von einer Millisekunde, in der geschaut wird, welche Areale des Fußes in diesem Moment den Boden belasten“, sagt Björn Gustafsson, Gründer des Laufanalysespezialisten Currex. Dabei lassen sich – in leichten Variationen – drei Arten herausarbeiten: der Vorfuß-, der Mittelfuß- und der Fersen- oder Rückfußaufsatz. Beim Vorfußlauf belastet der Athlet das vordere Drittel des Fußes im Bereich des Ballens, beim Mittelfußlauf das mittlere und beim Fersenlauf das hintere Drittel. Unter den drei Arten lassen sich bei den Bodenreaktionskräften hinsichtlich der auftretenden Gesamtkraft kaum Unterschiede ausmachen. Unabhängig von der Lauftechnik treten je nach Laufgeschwindigkeit und Geländeprofil Belastungen von etwa dem 1,5- bis Dreifachen der Körpergewichtskraft auf. Dabei variieren Läufer meist instinktiv ihren Laufstil in Abhängigkeit des Geländeprofils und wechseln bergauf häufig in den Vorfußlauf.
Die Theorie klingt einfach: Der gemäßigte Mittelfußaufsatz vereint die Vorteile und eliminiert die Nachteile des Vorfuß- und Fersenlaufens, ist also gleichermaßen schnell und körperschonend. Die Realität sieht allerdings anders aus.
Fersenaufsatz weit verbreitet
In einer 2019 im „Journal of Biomechanics“ veröffentlichten Studie haben Brian Hanley, Athanassios Bissas, Stéphane Merlino und Allison H. Gruber festgestellt, dass die Elite-Marathonläufer bei den IAAF-Weltmeisterschaften 2017 mehrheitlich Fersenläufer waren –
sowohl Männer als auch Frauen. Von den 71 männlichen Startern waren während der 42,195 Kilometer nie weniger als 54 Prozent Rückfußläufer, von den Frauen nie weniger als 67 Prozent. Ihren Laufstil behielten während des Marathons rund 75 Prozent der Athleten bei. Ein Viertel variierte den Fußaufsatz. Für Hobbyläufer geht man von noch deutlicheren Werten aus. „Die gängigste Art ist der Fersenlauf“,
betont Björn Gustafsson, selbst Sportwissenschaftler und medizinischer Personaltrainer. „96 Prozent der Menschen haben diesen Stil. Auch wenn sie meinen, sie seien Mittelfußläufer, ergeben genaue Analysen mittels Videoaufnahme und Druckmessplatte häufig ein anderes Bild. Bei manchen Menschen gibt es auch Unterschiede im Aufsatz zwischen dem linken und rechten Fuß.“ Die Distanz spiele dabei eine mitentscheidende Rolle. „Je kürzer die Strecke, desto eher wird auf dem Vorfuß gelaufen. Sprinter, aber auch die 400- oder 800-Meter-Läufer, tendieren zu dieser Art. Danach wechselt es häufig in Richtung Mittelfuß. Ab 5.000 Metern geht fast einheitlich der Rückfußlauf los. Ausnahmen bestätigen die Regel“, analysiert Gustafsson. Neben der Distanz spielt die Geschwindigkeit eine Rolle für das Fußaufsatzverhalten: „Je langsamer ein Läufer ist, desto eher ist er ein Fersenläufer.“
Blickt man also auf die Weltspitze der Mittel- und Langdistanzen und die breite Masse an Läufern, stellen nur wenige das theoretische Idealbild für den Fußaufsatz dar. „Der Mittelfußlauf ist sicherlich das beste Mittel, aber eine sehr schwere Technik, weil sie sehr sauber ausgeführt werden muss. Daher sagt man, dass die optimale Lösung ein ganz leichter und flacher Rückfußaufsatz ist, der dem Mittelfußaufsatz sehr nahekommt“, erklärt Gustafsson. Sollten Athleten also ihren Laufstil ändern, um diesem Ideal näherzukommen? „Nein“, betont Gustafsson. „Für jemanden, der mit seiner Pace auf der Strecke zufrieden ist und der keine körperlichen Beschwerden hat, besteht gar kein Handlungsbedarf.“ Dem bekannten Leitspruch „never change a running system“ kommt gerade in diesem sensiblen Bereich große Bedeutung zu. „Wer nur aus ästhetischen Aspekten umschulen möchte, sollte sich fragen, wie oft er an einem Schaufenster vorbeiläuft, um sich selbst anzusehen“, so Gustafsson. Den Fußaufsatz zu ändern, kann nämlich weitreichende Auswirkungen auf den Bewegungsablauf und die gesamte Lauftechnik zur Folge haben – positive, aber auch negative. Der Fußaufsatz beeinflusst die Belastung des Stütz- und Bewegungsapparats, die energetische Beanspruchung, die muskuläre Ermüdung und den Wirkungsgrad der Bewegung.
In ihrem Übersichtsartikel von 2017 im „Journal of Sport and Health Science“ zeigen Joseph Hamill und Allison H. Gruber, dass die wissenschaftliche Evidenz zur Modifikation der Lauftechnik eher dünn ist, und weisen darauf hin, dass die Änderung des Fußaufsatzes beim Laufen die Verletzungsrate sogar erhöhen kann.
Vielmehr, so Gustafsson, gebe es zwei Trigger, in deren Fall eine Umstellung erfolgen könnte: „Wenn ein Läufer leistungstechnisch stagniert und schneller werden möchte oder wenn jemand dauerhaft verletzt ist, kann es ratsam sein, sich mit einer Änderung der Lauftechnik und damit des Fußaufsatzes zu beschäftigen.“ Typische Beispiele sind der Vorfußläufer, der anhaltende Probleme mit der Achillessehne hat, und der Fersenläufer, der permanent Kniebeschwerden bekommt oder keine Geschwindigkeit zulegen kann.
Schuhe spielen eine essenzielle Rolle
Wer die Entscheidung fällt, seinen Stil zu ändern, sollte allerdings Geduld mitbringen. Talentierte Läufer können mit einer Phase von sechs Monaten rechnen, bis der neue Stil bei ihnen in Mark und Bein übergegangen ist. Die breite Masse muss eher mit einem Jahr kalkulieren. Für diejenigen, für die Laufen ohnehin schon eine schwierige Angelegenheit ist, kann die Umstellung bis zu zwei Jahre dauern. „Es sollte auf jeden Fall ein betreuter Prozess sein, mit einem Coach, der regelmäßig dabei ist, um korrigieren und anleiten zu können“, betont Gustafsson. Dann gebe es grundsätzlich zwei Arten, den neuen Stil zu verinnerlichen: In den Einheiten neben Technikübungen wie Lauf-Abc immer wieder erst kurze, dann längere Passagen mit dem ungewohnten Fußaufsatz einbauen – oder erst einmal komplett auf kürzere Einheiten mit dem neuen Stil setzen und diese dann sukzessive ausweiten. „Es gibt auch Athleten, die laufen auf der Bahn einen anderen Stil als auf der Straße und nutzen unterschiedliche Schuhe“, erklärt Gustafsson.
Das Thema Schuh spielt beim Fußaufsatz eine ebenso essenzielle Rolle wie der Wille, etwas zu ändern. Der Schuh bildet gewissermaßen das Interface zwischen dem Willen und der Umsetzung. „Wer vom massiven Fersenläufer in Richtung Mittelfußaufsatz umschulen oder einfach flacher aufsetzen möchte, sollte auch an seinem Schuhschrank arbeiten“, empfiehlt der Laufexperte. Wichtig sei die Sprengung, also die Differenz zwischen der Sohlendicke von Ferse und Vorfuß. Je größer die Sprengung, desto höher der „Absatz“ des Schuhs, der teilweise auch durch eine starke – aber unter Umständen überflüssige – Dämpfung hervorgerufen wird. „Mit einem hochgesprengten Schuh wird man eine Umstellung kaum hinbekomen“, betont Gustafsson. „Ein gutes Mittelmaß für alle Läufer sind zwischen vier und acht Millimeter Sprengung.“ In dieser Hinsicht muss man beim Schuhkauf an einen Experten geraten, denn nicht jeder Hersteller gibt die Sprengung auf der Packung oder dem Schuh selbst an.
Vor diesem Schritt sollte allerdings ein anderer stehen. Um zu ermitteln, ob es sinnvoll ist, seinen Fußaufsatz zu ändern, oder ob die Probleme vielleicht doch in anderen Bereichen liegen, muss zunächst der Status quo bestimmt werden. Dafür sind Laufanalysen geeignet, die den Bewegungsablauf mittels Videotechnik und Messmethoden detailliert darstellen. Um einen ersten Eindruck vom eigenen Laufstil zu erhalten, können Sportler ihren Lauf aber auch selbst filmen.
Experten sind sich übrigens mittlerweile einig, dass die Fußform und -stellung für den Bewegungsablauf und die Beschwerdefreiheit nur eine untergeordnete Rolle spielen. Während lange Zeit bei Laufanalysen vornehmlich auf Supinierer, also Läufer, die beim Fußaufsatz nach außen wegknicken, oder Überpronierer, sprich Läufer, die nach innen einknicken, eingegangen wurde und Schuhe mit entsprechender Stabilisierung verkauft wurden, werden diese Bewegungsmuster heutzutage vernachlässigt, solange sie nicht pathologische Ausmaße annehmen. Auch Fehlstellungen wie Platt-, Knick-, Senk- oder Spreizfuß sind für den Fußaufsatz nur bedingt von Bedeutung. „Eine mäßige Pronation ist eine hervorragende natürliche Dämpfung, genau wie ein Plattfuß“, erklärt Gustafsson. „Die Industrie ist ab den 1980er-Jahren dazu übergegangen, die Natur mit übertriebenen Dämpfungen, hohen Sprengungen und Stabilitätsschuhen zu overrulen. Wenn das dem natürlichen Bewegungsablauf dienen würde, hätte sich der Fuß im Laufe der Evolution in diese Richtung entwickelt. Wir sollten zurück zu einem eher natürlichen Schuh.“
Das muss kein Barfußschuh sein, denn der verlangt eine ausgeprägte Fußmuskulatur, die nur wenige
haben. Allerdings hilft der zeitweise Verzicht auf Schuhwerk dabei, seinen Fußaufsatz zu optimieren und ein besseres Laufgefühl zu entwickeln. „Jeder denkt, er könne laufen. Das ist nicht richtig“, sagt Gustafsson und rät: „Jeder sollte aber laufen lernen. Immer wieder.“ Am besten beherrscht jeder alle Aufsatzvarianten und passt sie den Erfordernissen nach Geschwindigkeit, Streckenlänge und -profil an.
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