Zwischen den Schlägen lesen

 Es ist eine alte, für viele ­Sportler aber unbequeme Weisheit: Der Muskel wächst in der Pause. Nach dem klassischen Prinzip der ­Superkompensation sollte auf jede Belastung ­irgendwann eine Entlastung folgen, in der der Körper die gesetzten Reize in neue Leistungszuwächse umsetzen kann. Doch während die Steuerung der Reizintensität mittels Leistungs-, Herzfrequenz- oder Tempomessung im vergangenen Jahrzehnt eine neue Qualität erreicht hat, bleibt eine wesentliche Frage zu diesem Prinzip unbeantwortet: Nämlich, wann es überhaupt an der Zeit ist, einen entsprechenden Reiz zu setzen. Wann der Körper also aufnahmebereit für intensive Trainingsbelastungen ist und wann solche entweder wirkungslos verpuffen oder im schlimmeren Fall sogar Übertraining, Krankheiten und Verletzungen begünstigen würden.

Gegenspieler im Nervensystem

Eine Antwort versuchen moderne Sport­uhren zu geben, die beispielsweise mittels Herzfrequenzmessung am Handgelenk und Bewegungsanalysen die alltägliche Belastung, das Training und das Schlafverhalten rund um die Uhr zu tracken versuchen. Woraus genau diese Programme ableiten, wie erholt ein Mensch sein soll, darum machen sich aber nur wenige Sportler Gedanken – dabei bietet die Antwort interessante Einblicke in die Wissenschaft rund um die Regeneration.

Viele Sportwissenschaftler rund um die Welt – und viele der modernen Smartwatches – setzen dafür vor allem auf die Messung der Herzfrequenzvariabilität (HRV). Diese drückt aus, wie regelmäßig ein Herz schlägt, und soll darüber Aufschluss geben können, wie erholt oder gestresst ein Mensch gerade ist. So schlägt ein Herz bei einer Herzfrequenz von 60 Schlägen pro Minute zwar durchschnittlich genau ein Mal pro Sekunde. Doch es ist eben nur der Durchschnitt. In der Realität liegen zwischen den einzelnen Schlägen beispielsweise manchmal 800, beim nächsten Schlag möglicherweise 1.200 ­Millisekunden. Je regelmäßiger ein Herz nun schlägt, je geringer also die Variabilität zwischen den einzelnen Schlägen ist, desto bemühter und bewusster arbeitet der Körper gerade – das sympathische Nervensystem, das den Körper in höhere Leistungsbereitschaft versetzt und somit vor allem unter Stress aktiviert wird, dominiert. Ist der Gegenspieler des Sympathikus, das parasympathische Nervensystem, dominant, erfolgen die Schläge unregelmäßiger und die Variabilität steigt. Grundsätzlich ist das dann zunächst einmal ein Zeichen dafür, dass der Körper weniger stark arbeitet und der Mensch auch mental entspannter ist.

Werte rund um die HRV

> Der wichtigste Wert rund um die HRV ist der RMSSD (root mean sum of squared distance). Er wird in Millisekunden angegeben und macht eine Aussage über die kurzzeitige Veränderungen zwischen aufeinanderfolgenden R-Zacken zweier Herzschläge im EKG: Je höher dieser Wert, desto aktiver ist der Parasympathikus.

> Der CV (coefficient of variation) ergibt einen Wert in Prozent über die Variation in der HRV über einen Zeitraum von mehreren Tagen oder Wochen.

> Der SDNN (standard deviation of RR-intervals) gibt an, wie stark einzelne RR-Intervalle um den Mittelwert schwanken. Er gilt als ein Maß für die Gesamtaktivierung des Nervensystems beziehungsweise ist ein Maß für die Anpassungsfähigkeit. 

> Der pNN50 ergibt den Prozentsatz an an Paaren von RR-Intervallen, die mehr als 50 ms voneinander abweichen. Er korreliert stark mit dem RMSSD und gilt als gutes Maß für die parasympathische Aktivierung. Erste Verschlechterungen sind hier schneller erkennbar.

Normal ist gut

Je höher die Variabilität, desto besser – würde der gemeine Ausdauersportler nun vermutlich denken. So einfach ist es aber auch wieder nicht, wie Datenwissenschaftler Marco Altini weiß. Er hat eine App zur Messung der HRV entwickelt und sagt: „Es gilt nicht höher ist besser, sondern normal ist gut.“ Sein Kollege Jamie Stanley vom South Australian Sports Institute erklärt, warum das so ist: Demnach ist jedem Menschen eine gewisse Variabilität genetisch vorgegeben. Diese lässt sich beispielsweise über Ausdauertraining langfristig zwar in einem gewissen Maße verändern, grundsätzlich ist aber jeder zu einer gewissen „Baseline“ veranlagt, bei der der Mensch sich in einem körperlich erholten und auch mental entspanntem Zustand befindet. Dabei sagt es über die jeweilige Leistungsfähigkeit zunächst einmal nichts aus, ob diese Baseline nun wesentlich höher oder niedriger liegt als beim Trainingskollegen, mit dem man sich so gern vergleicht.

Moderne Sportuhren können bei der Aufzeichnung der HRV ­helfen. Voraussetzung ist eine zuverlässige Pulsmessung.

Denn diese grundsätzlich soliden Basiswerte geben die Möglichkeit, nicht die Leistungsfähigkeit, sondern viel mehr den Regenerations- und Stresszustand näher zu bestimmen. Dafür werden die Abweichungen von der Basislinie beobachtet. Auch wie stark diese üblicherweise ausfallen, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch sowie von Sportler zu Sportler. Deshalb sind sich die Sportwissenschaftler auch darin einig, dass es vor einer Interpretation und Bewertung zunächst einmal gilt, eine Datengrundlage zu schaffen.

Matheaufgaben für Triathleten

„Die Kraft der HRV-Messung zeigt sich nicht kurzfristig, sondern über Monate und Jahre“, meint etwa Jamie Stanley. Er legt für seine Sportler den Schnitt der letzten 60 Tage als Basis fest und bestimmt innerhalb dieses Zeitraums, wie die „natürliche Range“ an Abweichungen von dieser Basis ausfällt. Neben diese 60-Tage-Werte legt er dann die Werte der vergangenen sieben Tage und den des aktuellen Tags, um zu bestimmen, wie erholt der Sportler gerade ist und ob der Trainingsblock wie erwünscht wirkt. Denn aus der HRV ergeben sich zumindest starke Indizien, wie der Körper auf das Training reagiert.

„Als akute Reaktion des Nervensystems auf Ausdauertraining würde man erwarten, dass die HRV während eines Trainingsblocks ansteigt. Wenn man den gleitenden Durchschnitt der letzten sieben Trainingstage betrachtet, sollte man einen aufsteigenden Trend an der Baseline beobachten“, erklärt Dr. Dan Plews, der selbst Triathlon-Coach ist und zu dieser Thematik promoviert hat. Fällt die HRV in einem Block aber immer niedriger aus, könne das beispielsweise dafür sprechen, dass zu hochintensiv trainiert wird. Simon Wegerif, der ebenfalls eine HRV-App entwickelt hat, schließt in diese Betrachtung auch noch den Ruhepuls mit ein: „Ist die HRV leicht reduziert, spricht das zunächst für ein Erholungsdefizit, ist aber noch okay. Ist gleichzeitig die Herzfrequenz erhöht, spricht das dafür, dass der Athlet in ein unfunktionelles Overreaching gerät – der Organismus also noch nicht bereit ist, neue intensive Trainingsreize zu verarbeiten.“ Gleichzeitig können aber auch zu hohe HRV-Werte dafür sprechen, dass die Regeneration den Körper ermüdet und neue Trainingsreize nicht sinnvoll sind. Mittelfristig sollten sich die Werte durch gezielte Regenerationsphasen – etwa Entlastungswochen – immer wieder in Richtung der Basiswerte bewegen.

Vom Trainingsstress zum “Total Load”

Von einer Tag-zu-Tag-Betrachtung und -Beurteilung sind die meisten Sportwissenschaftler aber weitgehend abgerückt – sie dient höchstens dazu, mögliche heranziehende Infekte in der Frühphase zu erkennen. Denn die HRV ist von verschiedenen Faktoren abhängig, was große Möglichkeiten eröffnet, aber bei der Interpretation auch Verständnis erfordert. So beeinflusst auch mentaler Stress, der den Sportler in einer bestimmten Phase oder auch nur während der Messung selbst intensiver beschäftigt, die Aktivierung des sympathischen Nervensystems. Auch eine Nacht mit schlechtem Schlaf oder zu viel Gewichtsverlust wirken sich auf die HRV aus – also Faktoren, die über das reine Training hinausgehen, aber gerade für Agegrouper eine ganz wesentliche Rolle in der Belastungssteuerung spielen sollten. „Die HRV erfasst auch andere Stressfaktoren als den reinen Sport und gibt uns die Möglichkeit, die ­Adaptation zu quantifizieren“, meint Jamie Stanley.

Simon Wegerif plädiert deshalb dafür, bekannte Werte zur Belastungssteuerung wie den „Training Stress Score“, den beispielsweise die Trainingsplattform Trainingpeaks ermittelt, um die Dimension der HRV zu ergänzen, und spricht diesbezüglich vom Konzept des „total load“. „Betrachtet man das Sieben-Tage-Mittel und legt das gegen die Baseline der letzten vier bis sechs Wochen, konnte in ersten wissenschaftlichen Arbeiten beobachtet werden, dass bei einem Total-Load-Verhältnis zwischen den beiden Zeiträumen über 1,2 das Risiko von Verletzungen steigt“, meint Wegerif. „Bei Werten über 1,5 sogar stark. Werte unter 0,8 können ebenfalls problematisch werden, weil der Körper bei der Wiederaufnahme nicht mehr an den Stress gewohnt ist.“ Auch Marco Altini habe beobachtet, dass sich die kombinierte Betrachtung von HRV und reiner Trainingsbelastung als Vorhersageinstrument für Verletzungen eigne – „einer der Werte isoliert für sich allein dagegen nicht“, meint Altini.

Routine erfordert

Um speziell die HRV-Werte beurteilen zu können, müssen diese zunächst einmal aussagekräftig sein. Und dafür wiederum braucht es eine feste Messroutine, meint auch Utz Brenner, Trainer unter anderem der Ironman-Hamburg-Siegerin von 2021 Laura Zimmermann, der die HRV mit seinen Triathlonprofis schon seit mehreren Jahren zur Belastungssteuerung nutzt. Er kennt die Baseline seiner Athleten meist aus mehrjähriger Erfahrung und kann Werte daher über Jahre hinweg vergleichen. „Um diese Werte aber wirklich miteinander vergleichen zu können, müssen auch die Rahmenbedingungen, unter denen sie zustande gekommen sind, vergleichbar sein“, meint Brenner. Wie alle anderen Sportwissenschaftler rät er daher dazu, die Messung mindestens vier- bis fünfmal wöchentlich direkt nach dem Aufwachen am Morgen vorzunehmen. Brenner legt sich dafür den Brustgurt an und misst die HRV mittels einer Handy-App für rund fünf Minuten im Liegen. „Will man etwa vorher auf die Toilette gehen, kann man das machen – man sollte es dann aber immer so machen“, sagt er. Sensibler als im Liegen reagiere der Körper zudem im Stehen. „Daher überlege ich, künftig auf eine Kombinationsmessung umzustellen, bei der man zuerst liegt und dann steht“, sagt er. „Das mache ich mit meinen Athleten beispielsweise bei Reisen in andere Zeitzonen jetzt schon häufiger so.“ Auch Uhrenhersteller Polar misst seit geraumer Zeit im „orthostatischen Test“ auf diese Weise die HRV.

Apps, Gadgets und Co.

Rund um das HRV-Monitoring haben sich mehrere Smartphone-Apps etabliert, die zum Teil auch kostenfreie Versionen anbieten. So gibt zum Beispiel die App „EliteHRV“ alle wichtigen Parameter auch in der kostenfreien Version aus und errechnet daraus einen „Readiness-Score“ und warnt, wenn die HRV stark in Richtung Sympathikus oder Parasympathikus kippt. Ähnlich arbeitet die App „HRV4Training“, die ihre Ergebnisse zudem mit TrainingPeaks synchronisieren kann sowie die Apps ­„Ithlete“ sowie ­„Spikee“, die wiederum neben der HRV auch Trainingsdaten abspeichern und auswerten. Die Darstellungen der Ergebnisse und ­die Einstellungen (zum Beispiel rund um die ­morgendliche Messdauer oder die Körperlage) unterscheiden sich zwischen den Apps und sind wohl Geschmackssache.
Wer keine Lust hat, sein Handy etwa mit einem Pulsgurt zu koppeln, kann entsprechende Messungen auch mit vielen modernen Smartwatches durchführen. Polar setzt dabei auf den „orthostatischen Test“, bei dem Messungen im Liegen und Stehen kombiniert werden. Ein Brustgurt ist dabei weiterhin anzuraten, denn Messungen am Handgelenk sind nach wie vor mit Vorsicht zu genießen.
Wem das zu aufwendig ist, für den ­könnte beispielsweise der „Ouraring“ oder ein Whoop-Armband etwas sein. Diese Varianten bieten ein Aktivitäts­tracking rund um die Uhr, messen ­beziehungsweise errechnen die HRV automatisch und werten diese Messungen auch gleich aus. Hier bleibt aber das bei dieser Messmethode altbekannte Risiko möglicher Messungenauigkeiten. Von der integrierten Schlafanalyse sind die Experten nicht vollends überzeugt: „Die Geräte können die Schlafdauer messen, aber nicht die Qualität. Dafür braucht selbst ein Experte im Schlaflabor mehrere Stunden“, meint Stanley.

Anregung zur Reflexion

Für Brenner sind die HRV-Werte aber keine absolute Größe, die unmittelbares Reagieren erfordert, sondern eine Anregung für Kommunikation und Reflektion. „Sehe ich, dass eine Athletin schlechte Werte hat, frage ich nach, woran das liegen könne“, meint Brenner. Häufig sei das durch schlechten Schlaf, ungünstige Ernährung, die Zyklus­phase oder ein Stressgefühl am Morgen erklärbar. Simon Wegerif rät deshalb dazu, ein Tagebuch zu Schlaf, Stimmung, Müdigkeit und Stressfaktoren zu führen, um bremsende Faktoren erkennen und Anpassungen im Alltag vornehmen zu können, die die „Total Load“ reduzieren. Gelingt durch gute Selbstreflexion die Einordnung der Werte, böte das „die Chance des Abgleichs objektiver Zahlen mit dem subjektiven Feedback der Athleten. So kann man Warnzeichen früher erkennen und auch mal in einer Einheit Intensität herausnehmen, um Krankheiten und Verletzungen vorzubeugen“, sagt Coach Brenner.

Auch Marco Altini berichtet über Studien, bei denen Läufer täglich ihre HRV bestimmten und bei schlechten Werten intensive Einheiten skippten oder durch lockere Trainingseinheiten ersetzten – und die in Leistungstests hinterher besser abschnitten als die Vergleichsgruppen, die das nicht taten. Zudem würden HRV-Werte im Verlauf eines Trainingsblocks von Tag zu Tag weniger stark schwanken, je besser der Athlet auf einen Trainingsblock anspreche.

Großes Potenzial, große Aufgaben

Gadgets, die durch kontinuierliche Messungen etwa am Handgelenk Belastungs- und Erholungsstatus erfassen wollen, machen immer größere Fortschritte, werden aber noch von einigen Wissenschaftlern und Trainern mit Skepsis betrachtet. Während Jamie Stanley zwar betont, dass auch die sogenannte PPG-Messung, die überwiegend in Uhren und Handys genutzt wird, gute HRV-Messungen ermöglicht, setzt Brenner nach wie vor lieber auf den verlässlichen Brustgurt – und nimmt dafür gern in Kauf, dass seine Sportler mit den Messungen auch mal ein oder zwei Tage aussetzen, „weil es je nach Situation am Morgen auch Schöneres gibt, als einen Brustgurt anzuschlabbern und sich still hinzulegen.“ Immerhin, glaubt Stanley, müssten es bei der morgendlichen HRV-Routine nicht zwingend die vier bis sechs Minuten Messdauer sein, die überwiegend empfohlen werden. „Auch eine bis zwei Minuten können schon Aufschluss geben“, meint Stanley.

Am Ende sind für alle Wissenschaftler unter dem Strich zwei Dinge klar: Das ­Potenzial, mithilfe der Betrachtung der HRV Training effizienter und das Leben insgesamt gesünder zu gestalten, ist groß. Und auch, dass noch Arbeit notwendig ist, um dieses Potenzial wirklich voll auszuschöpfen. So sagt Altini: „Wenn man in diesem Thema neu ist, ist das alles erst mal verwirrend. Wir müssen Wege finden, das besser darzustellen und die Interpretation zu erleichtern.“ Spätestens dann wird die HRV vielen Triathleten wohl ähnlich geläufig sein wie Wattzahlen.

Related Articles

Gefangen im Datenstrudel

Von A wie anaerober Schwelle bis Z wie Zugfrequenz: Im Triathlon gibt es mittlerweile ein gutes Dutzend Metriken und dafür notwendige Tools, um Trainings- und Wettkampfergebnisse zu erfassen. Wir erklären dir, was davon wirklich sinnvoll ist und ab wann das Sammeln von Daten und der Vergleich mit anderen krankhaft wird.

Deutlich drüber: Das Phänomen Übertraining

Dass Triathlon eine trainingsintensive Sportart ist, ist kein Geheimnis. Doch wenn man es regelmäßig übertreibt, geht irgendwann gar nichts mehr, und man macht im schlimmsten Fall Bekanntschaft mit dem Phänomen des Übertrainings. Wir erklären dir, woran du es erkennst und wie du es vermeidest. Die Ursache liegt meist nämlich gar nicht in zu hohen Belastungen.

Responses

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert